Sonntag, 8. November 2009

Die Goldenen Zitronen im Gleis 22

Ein nächtlicher Wald auf dem Videoschirm, die Bäume im Vordergrund grell angestrahlt, dahinter unergründliche Tiefe. Gestalten schälen sich aus dem Dunkeln, gehen am Betrachter vorbei aus dem Bild, manche schieben Fahrräder. Dazu ein einfacher, satter Synthesizer-Basslauf, undefinierbare Percussions, die klimpernd und scheppernd den holprigen Takt vorgeben, düstere Stimmung. Ende des ersten Stücks.


Dann geht hinter der Videoleinwand ein Licht an, unscharf ist das Gesicht von Schorsch Kamerun zu erkennen. Das Schlagzeug legt los, Bass und Synthie setzen ein, Kamerun beginnt, einen Text zu lesen. Prosa, oder wie nennt man das jetzt? Spoken Word im No Wave-Gewand, avantgardistischer Punk, Diskurs-Noiserock, assoziatives Schreiben über Dissonanzen?


Es ist Mittwochabend im Gleis 22, die Goldenen Zitronen sind gekommen, um ihr neues Album „Die Entstehung der Nacht“ vorzustellen. Sofort ist klar: mit Erwartungshaltungen sollte man bei den „Goldis“ vorsichtig umgehen – von den bierseligen Punksongs aus den Anfangstagen der Hamburger ist nicht mehr viel geblieben, die Lederjacken haben sie längst abgelegt. Stattdessen tragen sie bizarre Kostüme: Kamerun im seidenen Esotherik-Gewand, Bassist Thomas Wenzel mit Turban, Schlagzeuger Enno mit roten Teufelsohren und Pumpärmeln – die Parole „Für immer Punk“ gilt zwar immer noch, mittlerweile aber eher im Sinne einer intellektuellen Verweigerungshaltung in Kleidung, Text und Musik. Es gibt immer noch Parolen und Systemkritik, es geht um Widersprüche, Unbehagen, Reflexionen der Konsumgesellschaft und um Weltflucht – „immer noch eine Option!“, wie Kamerun betont.


Entsprechend klingt die Musik, eine kakophone Mischung aus Punk, Wave, Noiserock, Rückkopplungen, fiepsend-dissonanten Keyboards, analogen Synthesizern und schrägen Blockflöten. Man kann sich nun in Deutungsversuchen verlieren, die Texte sezieren und interpretieren – den „Goldis“ ist das wahrscheinlich ziemlich egal. Sie sind längst erhaben über Schubladen und Bedeutungszuweisungen, als Referenzen taugen am ehesten sie selber. Dabei gibt es in Kameruns Texten, natürlich, viel entdecken!


Doch auch wer sich einfach nur auf die Wirkung der Musik einlässt, macht alles richtig: Der Lärm, das fröhliche Zulassen von Dissonanz, der Spaß an der Dekonstruktion von Harmonien – selten war das so mitreißend wie bei den Goldenen Zitronen.


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